Die Zahl der Pflegebedürftigen wächst – und damit auch die Zahl derjenigen, die finanziell belastet werden. Eine Stader Fachfrau empfiehlt der Politik, sich in Skandinavien etwas abzuschauen.
Landkreis. Der Anstieg ist drastisch: Laut dem Statistischen Bundesamt sind 5,7 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Weil ein Großteil der heute Erwerbstätigen zur Generation der Babyboomer gehört und innerhalb der kommenden 15 Jahre in den Ruhestand geht, wird diese Zahl weiter steigen – auf 6,8 Millionen Menschen im Jahr 2055, so die Prognose des Bundesamtes.
Auf der Internetseite heißt es dort: „Die Lebenserwartung und Alterung in Deutschland steigt und damit nimmt das Thema Pflege an Bedeutung zu.“ Häufig werden pflegende Angehörige von einem ambulanten Pflegedienst unterstützt. Ein Platz in einem Pflegeheim ist eine weitere Option. In beiden Fällen gilt: Die finanzielle Belastung für die Pflegebedürftigen und/oder die Angehörigen ist zum Teil enorm.
Das deutsche Gesundheitssystem muss neue Wege gehen, sagt Wencke Delekat. Die Staderin ist Ergotherapeutin und hat in mehreren Pflegebereichen gearbeitet, auch in der Langzeitpflege. Mit „Seniorensport Stade“ hat sie sich selbstständig gemacht. Mit einfachen Mitteln wie Gymnastikball und Trommelstöcken bietet sie Fitness wie „Drums alive“ an.
Wencke Delekat hat die Vision, das Gesundheitssystem skandinavischer zu machen. „Der Blick über den deutschen Tellerrand lässt mich nach Dänemark und Schweden schauen“, sagt sie. Delekat hat in Skandinavien recherchiert und fragt: „Warum nehmen wir nicht bestimmte Elemente und machen es auch?“
Bei der Finanzierung der deutschen Pflege und der in den beiden skandinavischen Ländern beginnen die Unterschiede. Während in Deutschland jede Person, die gesetzlich krankenversichert ist, auch automatisch in eine Pflegeversicherung einzahlt, wird dort das Gesundheitswesen über die Steuer finanziert. Ziel ist dabei, jedem Bürger, unabhängig vom Einkommen, den gleichen Zugang zu gesundheitlichen Leistungen zu ermöglichen – und möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben.
In Dänemark ist Pflege Teil des kommunalen Haushalts. Die Kommune hat die Verantwortung und die Pflicht, ihre Bürger pflegerisch zu versorgen. An einem einfachen Beispiel erläutert Wencke Delekat die Unterschiede.
Ein fiktives Beispiel: Lisa, 80, in Deutschland
„Nehmen wir die fiktive Person Lisa, 80 Jahre alt“, sagt Wencke Delekat. „Alleinlebend, verwitwet, die Kinder wohnen nicht im Ort. Lisa wohnt im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses ohne Fahrstuhl, ist noch aktiv, fährt Rad. Dabei stürzt sie und bricht sich das Becken, sie kommt ins Krankenhaus, muss aber nicht operiert werden.“
Ein Krankenhausaufenthalt in Deutschland werde über die Diagnosis Related Groups, die durchschnittliche Verweildauer oder auch Fallpauschale gerechnet. Die mögliche Verweildauer beträgt laut Fallpauschalen-Katalog zwischen 6,9 und 14,8 Tagen. Geht sie zu Ende, wird – die Kinder sind nicht vor Ort – der Sozialdienst eingeschaltet. Dieser schaue, unter welchen Bedingungen Lisa im Rahmen der von der Krankenkasse finanzierten Behandlungstage das Krankenhaus schnellstmöglich verlassen kann.
Dem folge ein Eilantrag auf Pflegegrad bei der Pflegekasse, anschließend beauftragt die Pflegekasse den Medizinischen Dienst damit, die Pflegebedürftigkeit festzustellen. Werde der Eilantrag bewilligt, bekomme Lisa zum Beispiel vorläufig den Pflegegrad zwei. Und damit die Eintrittskarte in die stationäre Kurzzeitpflege im Pflegeheim.
Dann werde eine Anfrage an sämtliche Pflegeeinrichtungen gestellt. „Wo Platz ist, kommt Lisa hin“, so Delekat. Die Finanzierung laufe über die Pflegekasse, über das Budget Kurzzeitpflege. Einen Eigenanteil bei Übernachtung, Verpflegung, Wäsche, Reinigung müsse Lisa trotzdem leisten.
Sei das Budget aufgebraucht, Lisa aber noch nicht wieder fit, werde der Vertrag von einer Kurzzeitpflege (maximal acht Wochen pro Jahr) in einen Langzeitpflegevertrag (circa sechs Monate) umgewandelt. Sie bleibt im Pflegeheim. „Dadurch erhöht sich auch der Eigenanteil von Lisa enorm“, sagt Wencke Delekat.
So würde Lisa in Skandinavien versorgt werden
„Kommen wir zu Dänemark, das uns mit der Digitalisierung in der Pflege gefühlt 25 Jahre voraus ist“, so Delekat. Dänen und Schweden bekommen bei Geburt eine persönliche Identifikationsnummer (CPR). Mit dieser identifizieren sie sich in allen Lebenslagen.
In Dänemark komme Lisa in ein Krankenhaus und werde dort über ihre Personennummer registriert. Über die elektronische Patientenakte, seit langem dort Usus, weiß das Krankenhaus sofort über mögliche Allergien oder benötigte Medikamente Bescheid.
Das Krankenhaus informiere Lisas Kommune, dass sie derzeit mit einem Beckenbruch dort liegt. „Die Kommune, da sie dazu verpflichtet ist, macht sich Gedanken darüber, was mit Lisa passiert, wenn sie wieder nach Hause kommt.“
Sobald Lisa entlassen werde, fährt Wencke Delekat fort, spreche die Kommune mit ihr ab, was sie braucht. „Sie sorgt dafür, dass Lisa jedes Hilfsmittel – vom besonderen Toilettensitz bis zum Rollator – erhält. Das schließt auch digitale Hilfsmittel wie beispielsweise eine Alexa zur sprachlichen Lichtsteuerung mit ein.“
Lisa müsse nichts tun, nicht telefonieren, keine Termine machen oder Anträge stellen. Weil sie sich sicher sein könne: Die Kommune kümmert sich, alle Kosten sind abgedeckt.
So funktioniert das Gesundheitssystem in Schweden
In Schweden sei der Verlauf für Lisa ähnlich wie in Dänemark, sagt Wencke Delekat. Dort ist das Gesundheitssystem allerdings dezentralisiert – es wird entweder von den Regionen, den lokalen Behörden oder den Gemeinden verwaltet und betrieben.
In beiden skandinavischen Ländern gebe es Pflegeheime, sagt Wencke Delekat, „in die man nur dann kommt, wenn alles auf dem ambulanten Sektor ausgeschöpft wurde und gar nichts mehr geht“.
In Schweden gebe es inzwischen mehr private Anbieter. „Sie bieten zum Basistarif der Kommune weitere Zusatzleistungen an, die nicht in der kommunalen Grundversorgung enthalten sind.“ Auch in Dänemark nehme das Angebot der privaten Anbieter zu.
In Deutschland leben gut 80 Millionen Menschen, in Dänemark 8 Millionen. Änderungen dürften dauern. „Wir werden nicht sofort ein steuerfinanziertes Gesundheitsmodell mit Abschaffung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen hinbekommen“, sagt Delekat. Ihr gehe es um ein vereinfachtes System und mehr Selbstbestimmung.
Aktuell besucht Wencke Delekat vor den Bundestagswahlen Kandidaten der demokratischen Parteien im Landkreis Stade. Sie will wissen, wie sie pflegerische Versorgung priorisieren und aufzeigen, was aus den skandinavischen Modellen übernommen werden könnte. Bisher, sagt sie, sei sie auf positive Resonanz gestoßen.
